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Nachdenkliche Lyrik von Bertolt Brecht und Erich Fried

Herbst-Blätter deutschsprachiger Dichter

aufgelesen, im Unterricht hin und her gedreht, verglichen - auch landschaftlich und stilistisch

im chilenischen Herbst (April - Mai 2003), also zur deutschen Frühlingszeit

 

Eduard Mörike (1804 - 1875 Stuttgart)  

 

Septembermorgen 

Im Nebel ruhet noch die Welt,

Noch träumen Wald und Wiesen:

Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,

Den blauen Himmel unverstellt,

Herbstkräftig die gedämpfte Welt

in warmem Golde fließen.

 

Barthold Heinrich Brockes (1680-1747)

 

Arioso  (veröffentlicht 1738)

 

   Bleiche Blätter, bunte Büsche,

   Gelbe Stauden, röthlichs Rohr,

   Euer flüsterndes Gezische

   Kommt mir wie ein Sterb-Lied vor.

   Aber da ihr, wenn ihr sterbet,

   (Wie in einer hellen Gluth

   Ein verlöschend Fünckchen thut)

   Euch am allerschönsten färbet;

   Wird, durch euer buntes Kleid,

   Nicht nur Aug' und Hertz erfreut,

   Und zu Gottes Ruhm geführet,

   Sondern, auf besond're Weise,

   Durch so holden Schmuck gerühret,

   Wünscht mein Hertz, nicht minder schön,

   Zu des Allerhöchsten Preise,

   Wann ich sterbe, zu vergehn!

 

(Gegenüber der Druckfassung von 1738 wurde die Schreibweise der Umlaute geändert.)

Arioso (ital.):  arienähnlicher, kurzer Gesang, zuweilen in deklamatorischer Art; 

hier:   Teil einer Wort-Kantate mit dem Titel "Herbst"

Friedrich Hölderlin (1770 - 1843)

Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget

Und voll mit wilden Rosen

Das Land in den See,

Ihr holden Schwäne,

Und trunken von Küssen

Tunkt ihr das Haupt

Ins heilignüchterne Wasser.

 

Weh mir, wo nehm ich, wenn

Es Winter ist, die Blumen, und wo

Den Sonnenschein

und Schatten der Erde?

Die Mauern stehn

Sprachlos und kalt, im Winde

Klirren die Fahnen.

 

 

FRIEDRICH HEBBEL

 

Herbstbild

 

Dies ist ein Herbsttag, wie ich keinen sah!

   Die Luft ist still, als atmete man kaum,

Und dennoch fallen raschelnd, fern und nah,

   Die schönsten Früchte ab von jedem Baum.

 

O stört sie nicht, die Feier der Natur!

   Dies ist die Lese, die sie selber hält,

Denn heute löst sich von den Zweigen nur,

   Was vor dem milden Strahl der Sonne fällt

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Herbst (Entstehungszeit: 1902)

    Die Blätter fallen, fallen wie von weit,

   Als welkten in den Himmeln ferne Gärten;

   Sie fallen mit verneinender Gebärde.

 

   Und in den Nächten fällt die schwere Erde

   Aus allen Sternen in die Einsamkeit.

 

   Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.

   Und sieh dir andre an: es ist in allen.

 

   Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen

   Unendlich sanft in seinen Händen hält.

 

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Spätherbst in Venedig (Entstehungszeit 1907)

Nun treibt die Stadt schon nicht mehr wie ein Köder,

der alle aufgetauchten Tage fängt.

Die gläsernen Paläste klingen spröder

an deinen Blick. Und aus den Gärten hängt

 

der Sommer wie ein Haufen Marionetten

kopfüber, müde, umgebracht.

Aber vom Grund aus alten Waldskeletten

steigt Willen auf: als sollte über Nacht

 

der General des Meeres die Galeeren

verdoppeln in dem wachen Arsenal,

um schon die nächste Morgenluft zu teeren

 

mit einer Flotte, welche ruderschlagend

sich drängt und jäh, mit allen Flaggen tagend,

den großen Wind hat, strahlend und fatal.

 

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.

Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,

und auf den Fluren lass die Winde los.

 

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;

gib ihnen noch zwei südlichere Tage,

dränge sie zur Vollendung hin und jage

die letzte Süße in den schweren Wein.

 

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.

Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,

wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben

und wird in den Alleen hin und her

unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.  

 

 

GEORG TRAKL (1887 - 1914)

 

Verklärter Herbst

 

Gewaltig endet so das Jahr

Mit goldnem Wein und Frucht der Gärten.

Rund schweigen Wälder wunderbar

Und sind des Einsamen Gefährten.

 

Da sagt der Landmann: Es ist gut.

Ihr Abendglocken lang und leise

Gebt noch zum Ende frohen Mut.

Ein Vogelzug grüßt auf der Reise.

 

Es ist der Liebe milde Zeit.

Im Kahn den blauen Fluss hinunter

Wie schön sich Bild an Bildchen reiht -

Das geht in Ruh und Schweigen unter.  

   

Georg Trakl (1887 - 1914)

 

Der Herbst des Einsamen

(entstanden wahrscheinlich 1913; veröffentlicht posthum 1915)

 

Der dunkle Herbst tritt ein voll Frucht und Fülle,

Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.

 Ein reines Blau tritt aus verfallener Hülle;

 Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.

 Gekeltert ist der Wein, die milde Stille

 Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.

 

 Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel;

 Im roten Wald verliert sich eine Herde.

 Die Wolke wandert übern Weiherspiegel;

 Es ruht des Landsmanns ruhige Geberde.

 Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel

 Ein Dach von dürrem Stroh, die schwarze Erde.

 

 Bald nisten Sterne in des Müden Brauen;

 In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden

 Und Engel treten leise aus den blauen

 Augen der Liebenden, die sanfter leiden.

 Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,

 Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden.

 

 

Stefan George

 

Komm in den totgesagten Park

 

Komm in den totgesagten Park und schau:

Der schimmer ferner lächelnder gestade*

Der reinen wolken unverhofftes blau

Erhellt die weiher und die bunten pfade.

 

Dort nimm das tiefe gelb* das weiche grau

von birken und von buchs* der wind ist lau*

Die späten rosten welkten noch nicht ganz*

Erlese küsse sie und flicht den kranz*

 

Vergiss auch diese letzten astern nicht*

Den purpur um die ranken wilder reben*

Und auch was übrig blieb vom grünen leben

Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.

[Anmerkung: Das *-Zeichen ist im Original ein

 auf Mitte der Zeile hochgestellter Punkt (ASCII-Code 249);

 Bitte bei der Formatierung ersetzen.]

 

 

Stefan George (1868-1933)

 

Wir schreiten auf und ab im reichen flitter

 

    Wir schreiten auf und ab im reichen flitter

    Des buchenganges beinah bis zum tore

    Und sehen aussen in dem feld vom gitter

    Den mandelbaum zum zweitenmal im flore.

 

    Wir suchen nach den schattenfreien bänken

    Dort wo uns niemals fremde stimmen scheuchten

    In träume unsre arme sich verschränken

    Wir laben uns am langen milden leuchten.

 

    Wir fühlen dankbar wie zu leisem brausen

    Von wipfeln strahlenspuren auf uns tropfen

    Und blicken nur und horchen wenn in pausen

    Die reifen früchte auf den boden klopfen.

 

 

Gottfried Benn

Einsamer nie -

 

Einsamer nie als im August:

Erfüllungsstunde - im Gelände

die roten und die goldenen Brände

doch wo ist deiner Gärten Lust?

 

Die Seen hell, die Himmel weich,

die Äcker rein und glänzen leise,

doch wo sind Sieg und Siegsbeweise

aus dem von dir vertretenen Reich?

 

Wo alles sich durch Glück beweist

und tauscht den Blick und tauscht die Ringe

im Weingeruch, im Rausch der Dinge -

dienst du dem Gegenglück, dem Geist.

   

 

Gottfried Benn

 

ASTERN

Astern -, schwellende Tage,

Alte Beschwörung, Bann,

Die Götter halten die Waage

Eine zögernde Stunde an.

 

Noch einmal die goldenen Herden

Der Himmel, das Licht, der Flor,

Was brütet das alte Werden

Unter den sterbenden Flügeln vor?

 

Noch einmal das Ersehnte,

Den Rausch, der Rosen Du -,

Der Sommer stand und lehnte

Und sah den Schwalben zu,

 

Noch einmal ein Vermuten,

Wo längst Gewissheit wacht:

Die Schwalben streifen die Fluten

Und trinken Fahrt und Nacht.

   

 

 

Hilde Domin (geb. 1912)

 

Herbstzeitlosen  (Veröffentlichung 1959)

 

    Für uns, denen der Pfosten der Tür verbrannt ist,

    an dem die Jahre der Kindheit

    Zentimeter für Zentimeter

    eingetragen waren.

 

    Die wir keinen Baum

    in unseren Garten pflanzten,

    um den Stuhl

    in seinen wachsenden Schatten zu stellen.

 

    Die wir am Hügel niedersitzen,

    als seien wir zu Hirten bestellt

    der Wolkenschafe, die auf der blauen

    Weide über den Ulmen dahinziehn.

 

    Für uns, die stets unterwegs sind

    - lebenslängliche Reise,

    wie zwischen Planeten -

    nach einem neuen Beginn.

 

    Für uns

    stehen die Herbstzeitlosen auf

    in den braunen Wiesen des Sommers,

    und der Wald füllt sich

    mit Brombeeren und Hagebutten -

 

    Damit wir in den Spiegel sehen

    und es lernen,

    unser Gesicht zu lesen,

    in dem die Ankunft

    sich langsam entblößt.  

 

(Hilde Domin: eigentlich Hilde Palm)