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Chile und Südamerika

 

1. Erfahrungen in Chile - Experiencias en Chile

       (1970 Wahl Allendes zum Präsidenten - 1073 Miltitärputsch)

2. Wiederbegegnung mit Santiago de Chile (2002)

3. Einführung in den Film "La Caída" ("Der Fall")

 

Geographischer Vergleich

(bei in etwa gleichem Maßstab)

Südamerika

Europa

 


 

 

 

Chile - ab 2002 -

 

 

 

 

Eindrücke und Glossen nach langer Abwesenheit

Schöne Stadt

Umgangsformen

Einkauf an Karsamstag 

Demokratie im Buchladen!?

 

Wiederbegegnung mit Santiago   

Gott, was ist Santiago schön geworden!  

Ich komme aus dem Staunen und Verwundern nicht heraus; zwar hatte die Stadt schon, als ich  sie vor 30 Jahren kennen lernte, viel Charme und Atmosphäre,  aber seit meinem letzten Besuch vor zehn Jahren hat sich Santiago nochmals gewaltig verändert, sie ist so schön geworden, es gibt so viele, jetzt gepflegte, Grünanlagen! und sie strahlt - in jetzt im Frühsommer besonders - eine angenehme, großstädtisch-warme Atmosphäre aus.

So viele herrliche, oft überhängende Bäume, säumen die oft einfachen Straßen und lassen sie zu Alleen werden, mit bunten Blumenrabatten an den Straßeneinmündungen. Es gibt viele schöne und saubere Alleen, gemütliche, großflächige Parks, hübsche Plazas mit Quioscos, Musikanten oder Akrobaten - oft arbeitslose junge Leute - die damit Geld verdienen, aber auch Bettler), fast überall asphaltierte Straßen, breite Alamedas und Avenidas mit gut gehaltenen Mittelstreifen - fast alles gut gepflegt, - in den vornehmeren Stadtvierteln des Osten viel weit mehr noch als in den übrigen, aber überall hat sich viel getan, (Es gibt sie noch, die hässlichen Schmutzzonen aus der Zeit des Niedergangs, sogar im Stadtzentrum selbst, aber sie sind vergleichsweise zu Tupfen geschrumpft).

Vor den Häusern und Hochhäusern sehe ich die Conserjes, die Mayordomos morgens und abends - meist in grau-blauer Hose, hellem Hemd und  mit Krawatte (!) Vorgärten und Gehsteige sprengen („regieren”) und kehren. Und Müllabfuhr und Straßenreinigung kommen regelmäßig.

Ein großer Letrero auf der Autopista del Sur 5 verkündet „Limpieza es Cultura”, wie wahr!

W

 

as einen ebenso in Staunen versetzt

sind die vielen gutbürgerlich-elegant gekleideten Menschen auf der Straße. Krass ist der Unterschied, wenn man wie wir, aus dem bunten, farbigen, nicht ganz leisen Brasilien kommt mit dem Gewirr von Menschen aller Hautfarben, die freundlich, aber informell daherkommen, oft bloß in kurzer Hose und mit T-Shirt gekleidet. -

Jetzt hier in der Providencia in de Sommerhitze, niemand in kurzen Hosen, außer ein paar Touristen; viele Männer, wenn nicht gar die meisten, tragen - auch in der Hitze - Krawatte und Anzug oder Hose in gedeckten Farben und weißes oder helles Hemd. Keine knapp gekleidete Frauen, viele Frauen (meistens ab mittlerem Alter) kommen sogar im Kostüm oder doch wenigstens in eleganten Hosenanzügen, viele auch in Röcken. Später, nach Feierabend, zu Hause oder im Urlaub zieht man sich lockerer an, aber jetzt während der Arbeit will und muss man gepflegt erscheinen, „una buena presentación“ ist unumgänglich. Dazu gehört auch die unvermeidliche Visitenkarte, die einem der „Empleado“ entgegenstreckt.

Man hört, vergleichsweise wenig lautes Lärmen; überall, auch im Laden an der Ecke, wird man förmlich-höflich behandelt,  auch der Umgang mit dem Dienstpersonal ist förmlich, besonders, wenn man was von einem will, oder wenn man den Abstand markieren will. Dann sagt man „Don Eusebio“ zum Hausmeister oder Kellner. (In Gesprächen mit Chilenen  wurde aber beklagt, dass das früher oft übliche echte „Usted“ leider sehr zurückgehe und das allgemeine, nivellierende Duzen stark im Vormarsch sei – wenn auch vielleicht nicht so drastisch wie in manch anderen hispanischen Ländern, - etwa in Spanien.

Gleichwohl, - die Begrüßung ist formvollendet und schein-bar herzlich: Schulterklopfen, bei Damen ein Wangenküsschen: „Hola, ¿Cómo le va?“, „Mucho gusto“;  der Gringo ist überrascht, versucht stammelnd zu antworten, aber sein chilenischer Gesprächspartner ist schon mit anderem beschäftigt. Überall ist man "Señor" („el señor, ¿qué desea?") oder gleich „Caballero“ (als potentieller Kunde im Geschäft), immer bemüht die Form, das Gesicht – das eigene wie das des anderen(!) - zu wahren. (Was man wirklich denkt, wird vermutlich das gleiche sein, wie das, was man überall auf der Welt in vergleichbaren Situationen denkt)

Auch unter den jungen Leuten sehe ich wenig Rüpel, ungepflegtes Benehmen gilt als unschick. Mir scheint, auch die Jugend ist (wert-)konservativ, fleißig, freundlich und - konsumorientiert.

Nachdem man von Sao Paulo her gewohnt war, dauernd auf der Hut zu sein, auf sein Geld, seine Sachen aufzupassen, sich dauernd hinter irgendwelchen Absperrungen aufzuhalten oder Sicherheitsmaßnahmen ergreifen zu müssen wegen möglicher Überfälle, macht man hier eine völlig andere Erfahrung: man geht hier aus und benimmt sich genauso wie in Deutschland,
genauso frei wie die vielen, vielen Menschen auf den Straßen hier. Es ist eine bürgerliche Gesellschaft, wo man nicht von vorneherein "unter sich" ist wie in den Shoppings von Sao Paulo. Auch hier gibt es Shoppings, die werden aber von allen besucht. „Unter sich“ ist man in den Clubs.

 

 

K

arsamstag im Jumbo - oder -  auch in Chile herrscht der Consumismo pur

Zu meinem Erstaunen sind die großen Einkaufsmärkte auch an den Wochenenden geöffnet, noch bis spät in die Nacht hinein. Oft herrscht ein dichtes Gedränge und Geschiebe, sogar am Sonntag. Anscheinend benutzen viele Berufstätige die späten Stunden zum Einkaufen, für  andere scheint der Supermarkt eine Art Freizeitpark zu sein und Einkaufen ein  Freizeitvergnügen. Ganze Familien mit ihren Kindern bevölkern die Großmärkte. Von Deutschland her anderes gewohnt, erstaunt mich hier das eher muntere als hektische Treiben.

In den langen Schlangen vor der Kasse spürt man kaum die in anderen Ländern vorherrschende Unruhe und  Hektik; gottergeben wartete man, man merkt auch dann noch keine Anzeichen von Ungeduld in der Schlange, wenn an der Kasse die Ware umgetauscht, der Preis erst noch festgestellt und die Supervisora abgewartet werden muss, „¡No se preocupe!”, sagt man dem „Gringo”, der in Unkenntnis der gewohnten Abläufe das Abwiegen des gekauften Brotes vergessen hat und nun unruhig auf die Schlange hinter sich schielt.

Aber was sich an diesem Karsamstagabend im Jumbo abgespielt hat, das übertraf bei weitem alles, was ich hier bisher an Einkaufsrummel erlebt habe.

Wegen der gestern, an Karfreitag geschlossenen Läden waren mehr Menschen als sonst unterwegs, hinzu kam noch die Gehaltsauszahlung am Monatsende. Das zog so viele

Menschen in die „Einkaufsparadiese”, dass man auch in den Gängen des Supermarktes, den Pasillos, nur mit viel Geduld und guter Manövrierkunst sich langsam durchschieben konnte. Dabei hatten die Wagenschieber oft ganz schön hoch geladen, und nicht nur Alimentos Básicos, so wie es früher oft der Fall war. Doch selbst heute herrscht hier eine fast angenehme Stimmung mit viel wohltuendem Kindergeschrei.

Eine solche Einkaufsatmosphäre habe ich noch nie erlebt, und die wird man - wieder in Deutschland – sicherlich vermissen.

Die große Zahl der Einkaufsmärkte und die vielen Pilger-„Reisen” der „Clientes” (als potentieller Kunde werde ich sowieso „Caballero” genannt, ich fühle mich dann gleich edler, einkaufsbereiter) sind ein Indiz dafür, dass auch in Chile nicht (mehr) die Ideologie wie früher, sondern der Konsum herrscht. Das Durchschnittseinkommen hat sich in den letzten 10 Jahren der Demokratie verdoppelt, das meiste davon geht für gutes Essen drauf. Vor allem die Fast Food-Industrie floriert und viele Chilenen – über 20 Prozent der Schulkinder - sind inzwischen übergewichtig.

Die vielen Supermärkte auch in ärmeren Stadtvierteln, mit ihren riesigen Parkplätzen, auf denen oft neue Mittelklasse-Autos stehen, deuten auf  einen bescheidenen Wohlstand auch in den unteren Einkommensschichten hin.

Immerhin hat Chile die einzig gut florierende Wirtschaft auf dem gesamten amerikanischen Kontinent, auch bei acht Prozent Arbeitslosen.

V

erwunderung

Ich gehe in einen Buchladen, kaufe Karten und Stadtpläne von Chile. Der Verkäufer zeigt mir stolz seine Literatur über Deutschland: Reiseführer, Kunstbände, Werke über die heldenhafte deutsche Armee im 2. Weltkrieg, über Waffen und Kriegskunst der Deutschen, über Hitler.

Auf meinem Hinweis, diese Verherrlichungen des Nazi-Deutschland repräsentiere nicht das heutige demokratische Nachkriegs-Deutschland. zeigt er mir stolz noch mehr Literatur mit wohlklingenden Titeln  über Hitler und andere Nazigrößen, u.a. auch „Mi Lucha”; erklärt mir, das eben sei Demokratie. Ich sage, in Deutschland sei es verboten, Literatur der Feinde der Demokratie zu verbreiten, weil es auch zur Demokratie gehöre, sie zu verteidigen und nicht noch Propaganda für ihre Feinde, ihre Totengräber zuzulassen. Stolz entgegnet der Verkäufer, Chile sei eben ein pluralistisches Land und der Leser solle sich selbst ein Urteil bilden. Auch die anderen Besucher und Verkäufer im Laden stimmten dem zu.  Kopfschüttelnd verlasse ich das Lokal.

Wenn ich als Deutscher an meinem Stakkato-Spanisch und meiner „Pinta” erkannt werde, höre ich öfters - neben aller Bewunderung für die Deutschen - auch ein „Heil”, „Heil Hitler”, „Sieg Heil” oder - harmloser - „Jawolll!” und sonstige, in Deutschland längst vergessene Formeln. Ich frage mich, sind das Nachwehen einer ganz bestimmten Sorte von Kriegsfilmen a la Hollywood oder gar Neonazistische Strömungen in Chile oder sind das bloß fehlende Kenntnisse über die größten Verbrechen und Untaten in der Geschichte der Menschheit.  Ich vermute Letzteres, denn, so sagte mir kürzlich ein lieber und ansonsten vernünftiger chilenischer Freund ganz im Ernst, der einzige Fehler, den Hitler gemacht habe, sei “das mit den Juden”.  

Gerd Hochländer, Januar-März  2002                

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Hier wird noch weiter gebaut!