Wiederbegegnung mit Santiago
Gott, was ist Santiago schön geworden!
Ich komme aus dem Staunen
und Verwundern nicht heraus; zwar hatte die
Stadt schon, als ich sie vor 30 Jahren
kennen lernte, viel Charme und Atmosphäre,
aber seit meinem letzten Besuch vor zehn
Jahren hat sich Santiago nochmals gewaltig
verändert, sie ist so schön geworden, es
gibt so viele, jetzt gepflegte, Grünanlagen!
und sie strahlt - in jetzt im Frühsommer
besonders - eine angenehme,
großstädtisch-warme Atmosphäre aus.
So viele herrliche, oft
überhängende Bäume, säumen die oft einfachen
Straßen und lassen sie zu Alleen werden, mit
bunten Blumenrabatten an den
Straßeneinmündungen. Es gibt viele schöne
und saubere Alleen, gemütliche, großflächige
Parks, hübsche Plazas mit Quioscos,
Musikanten oder Akrobaten - oft arbeitslose
junge Leute - die damit Geld verdienen, aber
auch Bettler), fast überall asphaltierte
Straßen, breite Alamedas und Avenidas mit
gut gehaltenen Mittelstreifen - fast alles
gut gepflegt, - in den vornehmeren
Stadtvierteln des Osten viel weit mehr noch
als in den übrigen, aber überall hat sich
viel getan, (Es gibt sie noch, die
hässlichen Schmutzzonen aus der Zeit des
Niedergangs, sogar im Stadtzentrum selbst,
aber sie sind vergleichsweise zu Tupfen
geschrumpft).
Vor den Häusern und
Hochhäusern sehe ich die Conserjes, die
Mayordomos morgens und abends - meist in
grau-blauer Hose, hellem Hemd und mit
Krawatte (!) Vorgärten und Gehsteige
sprengen („regieren”) und kehren. Und
Müllabfuhr und Straßenreinigung kommen
regelmäßig.
Ein großer Letrero auf der
Autopista del Sur 5 verkündet „Limpieza es
Cultura”, wie wahr!
as einen ebenso in Staunen versetzt
sind die vielen
gutbürgerlich-elegant gekleideten Menschen
auf der Straße. Krass ist der Unterschied,
wenn man wie wir, aus dem bunten, farbigen,
nicht ganz leisen Brasilien kommt mit dem
Gewirr von Menschen aller Hautfarben, die
freundlich, aber informell daherkommen, oft
bloß in kurzer Hose und mit T-Shirt
gekleidet. -
Jetzt hier in der
Providencia in de Sommerhitze, niemand in
kurzen Hosen, außer ein paar Touristen;
viele Männer, wenn nicht gar die meisten,
tragen - auch in der Hitze - Krawatte und
Anzug oder Hose in gedeckten Farben und
weißes oder helles Hemd. Keine knapp
gekleidete Frauen, viele Frauen (meistens ab
mittlerem Alter) kommen sogar im Kostüm oder
doch wenigstens in eleganten Hosenanzügen,
viele auch in Röcken. Später, nach
Feierabend, zu Hause oder im Urlaub zieht
man sich lockerer an, aber jetzt während der
Arbeit will und muss man gepflegt
erscheinen, „una buena presentación“ ist
unumgänglich. Dazu gehört auch die
unvermeidliche Visitenkarte, die einem der
„Empleado“ entgegenstreckt.
Man hört, vergleichsweise
wenig lautes Lärmen; überall, auch im Laden
an der Ecke, wird man förmlich-höflich
behandelt, auch der Umgang mit dem
Dienstpersonal ist förmlich, besonders, wenn
man was von einem will, oder wenn man den
Abstand markieren will. Dann sagt man „Don
Eusebio“ zum Hausmeister oder Kellner. (In
Gesprächen mit Chilenen wurde aber beklagt,
dass das früher oft übliche echte „Usted“
leider sehr zurückgehe und das allgemeine,
nivellierende Duzen stark im Vormarsch sei –
wenn auch vielleicht nicht so drastisch wie
in manch anderen hispanischen Ländern, -
etwa in Spanien.
Gleichwohl, - die Begrüßung
ist formvollendet und schein-bar herzlich:
Schulterklopfen, bei Damen ein
Wangenküsschen: „Hola, ¿Cómo le va?“, „Mucho
gusto“; der Gringo ist überrascht, versucht
stammelnd zu antworten, aber sein
chilenischer Gesprächspartner ist schon mit
anderem beschäftigt. Überall ist man "Señor"
(„el señor, ¿qué desea?") oder gleich
„Caballero“ (als potentieller Kunde im
Geschäft), immer bemüht die Form, das
Gesicht – das eigene wie das des anderen(!)
- zu wahren. (Was man wirklich denkt, wird
vermutlich das gleiche sein, wie das, was
man überall auf der Welt in vergleichbaren
Situationen denkt)
Auch unter den jungen
Leuten sehe ich wenig Rüpel, ungepflegtes
Benehmen gilt als unschick. Mir scheint,
auch die Jugend ist (wert-)konservativ,
fleißig, freundlich und - konsumorientiert.
Nachdem man von Sao Paulo
her gewohnt war, dauernd auf der Hut zu
sein, auf sein Geld, seine Sachen
aufzupassen, sich dauernd hinter
irgendwelchen Absperrungen aufzuhalten oder
Sicherheitsmaßnahmen ergreifen zu müssen
wegen möglicher Überfälle, macht man hier
eine völlig andere Erfahrung: man geht hier
aus und benimmt sich genauso wie in
Deutschland, genauso frei wie die vielen, vielen Menschen
auf den Straßen hier. Es ist eine
bürgerliche Gesellschaft, wo man nicht von
vorneherein "unter sich" ist wie in den
Shoppings von Sao Paulo. Auch hier gibt es
Shoppings, die werden aber von allen
besucht. „Unter sich“ ist man in den Clubs.
arsamstag im Jumbo - oder
- auch in Chile herrscht der Consumismo pur
Zu meinem Erstaunen sind
die großen Einkaufsmärkte auch an den
Wochenenden geöffnet, noch bis spät in die
Nacht hinein. Oft herrscht ein dichtes
Gedränge und Geschiebe, sogar am Sonntag.
Anscheinend benutzen viele Berufstätige die
späten Stunden zum Einkaufen, für andere
scheint der Supermarkt eine Art Freizeitpark
zu sein und Einkaufen ein
Freizeitvergnügen. Ganze Familien mit ihren
Kindern bevölkern die Großmärkte. Von
Deutschland her anderes gewohnt, erstaunt
mich hier das eher muntere als hektische
Treiben.
In den langen Schlangen vor
der Kasse spürt man kaum die in anderen
Ländern vorherrschende Unruhe und Hektik;
gottergeben wartete man, man merkt auch dann
noch keine Anzeichen von Ungeduld in der
Schlange, wenn an der Kasse die Ware
umgetauscht, der Preis erst noch
festgestellt und die Supervisora abgewartet
werden muss, „¡No se preocupe!”, sagt man
dem „Gringo”, der in Unkenntnis der
gewohnten Abläufe das Abwiegen des gekauften
Brotes vergessen hat und nun unruhig auf die
Schlange hinter sich schielt.
Aber was sich an diesem
Karsamstagabend im Jumbo abgespielt hat, das
übertraf bei weitem alles, was ich hier
bisher an Einkaufsrummel erlebt habe.
Wegen der gestern, an
Karfreitag geschlossenen Läden waren mehr
Menschen als sonst unterwegs, hinzu kam noch
die Gehaltsauszahlung am Monatsende. Das zog
so viele
Menschen in die
„Einkaufsparadiese”, dass man auch in den
Gängen des Supermarktes, den Pasillos, nur
mit viel Geduld und guter Manövrierkunst
sich langsam durchschieben konnte. Dabei
hatten die Wagenschieber oft ganz schön hoch
geladen, und nicht nur Alimentos Básicos, so
wie es früher oft der Fall war. Doch selbst
heute herrscht hier eine fast angenehme
Stimmung mit viel wohltuendem
Kindergeschrei.
Eine solche
Einkaufsatmosphäre habe ich noch nie erlebt,
und die wird man - wieder in Deutschland –
sicherlich vermissen.
Die große Zahl der
Einkaufsmärkte und die vielen
Pilger-„Reisen” der „Clientes” (als
potentieller Kunde werde ich sowieso
„Caballero” genannt, ich fühle mich dann
gleich edler, einkaufsbereiter) sind ein
Indiz dafür, dass auch in Chile nicht (mehr)
die Ideologie wie früher, sondern der Konsum
herrscht. Das Durchschnittseinkommen hat
sich in den letzten 10 Jahren der Demokratie
verdoppelt, das meiste davon geht für gutes
Essen drauf. Vor allem die Fast
Food-Industrie floriert und viele Chilenen –
über 20 Prozent der Schulkinder - sind
inzwischen übergewichtig.
Die vielen Supermärkte auch
in ärmeren Stadtvierteln, mit ihren riesigen
Parkplätzen, auf denen oft neue
Mittelklasse-Autos stehen, deuten auf einen
bescheidenen Wohlstand auch in den unteren
Einkommensschichten hin.
Immerhin hat Chile die
einzig gut florierende Wirtschaft auf dem
gesamten amerikanischen Kontinent, auch bei
acht Prozent Arbeitslosen.
erwunderung
Ich gehe
in einen Buchladen, kaufe Karten und
Stadtpläne von Chile. Der Verkäufer zeigt
mir stolz seine Literatur über Deutschland:
Reiseführer, Kunstbände, Werke über die
heldenhafte deutsche Armee im 2. Weltkrieg,
über Waffen und Kriegskunst der Deutschen,
über Hitler.
Auf meinem Hinweis, diese
Verherrlichungen des Nazi-Deutschland
repräsentiere nicht das heutige
demokratische Nachkriegs-Deutschland. zeigt
er mir stolz noch mehr Literatur mit
wohlklingenden Titeln über Hitler und
andere Nazigrößen, u.a. auch „Mi Lucha”;
erklärt mir, das eben sei Demokratie. Ich
sage, in Deutschland sei es verboten,
Literatur der Feinde der Demokratie zu
verbreiten, weil es auch zur Demokratie
gehöre, sie zu verteidigen und nicht noch
Propaganda für ihre Feinde, ihre Totengräber
zuzulassen. Stolz entgegnet der Verkäufer,
Chile sei eben ein pluralistisches Land und
der Leser solle sich selbst ein Urteil
bilden. Auch die anderen Besucher und
Verkäufer im Laden stimmten dem zu.
Kopfschüttelnd verlasse ich das Lokal.
Wenn ich als Deutscher an
meinem Stakkato-Spanisch und meiner „Pinta”
erkannt werde, höre ich öfters - neben aller
Bewunderung für die Deutschen - auch ein
„Heil”, „Heil Hitler”, „Sieg Heil” oder -
harmloser - „Jawolll!” und sonstige, in
Deutschland längst vergessene Formeln. Ich
frage mich, sind das Nachwehen einer ganz
bestimmten Sorte von Kriegsfilmen a la
Hollywood oder gar Neonazistische Strömungen
in Chile oder sind das bloß fehlende
Kenntnisse über die größten Verbrechen und
Untaten in der Geschichte der Menschheit.
Ich vermute Letzteres, denn, so sagte mir
kürzlich ein lieber und ansonsten
vernünftiger chilenischer Freund ganz im
Ernst, der einzige Fehler, den Hitler
gemacht habe, sei “das mit den Juden”.
Gerd Hochländer,
Januar-März 2002
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